Die neue Qualität: Hochautomatisiertes Fahren nach Level3

Ab 2023 erlaubt eine UNECE-Regelung das hochautomatisierte Fahren bis 130 km/h. Erstmals darf der Mensch die Kontrolle abgeben. Christoph Schwarzer beleuchtet den wichtigen Sprung, die Premiere bis Tempo 60 im Mercedes EQS und auch die Chancen für Tesla. Pflichtlektüre für die Branche!
„Mit Level 3 ändert sich die Welt“, sagt Professor Andre Seeck. Was der Leiter der Abteilung Fahrzeugtechnik bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) meint, ist das hochautomatisierte Fahren: Der Mensch ist auf Wunsch aus dem sogenannten Regelkreis raus. Er kann zum Beispiel Mails checken oder mit dem Smartphone spielen. Die Maschine ist verantwortlich. Das sieht die überarbeitete UNECE-Regelung vor, die ab 2023 gilt – auf der Autobahn, bis 130 km/h, inklusive Fahrstreifenwechsel und gültig für Pkw sowie für Nutzfahrzeuge.
Die neue Qualität: Bei den bisherigen teilautomatisierten Systemen nach Level 2 war das Fahren lediglich assistiert. Ein adaptiver und radarbasierter Tempomat regelt den Abstand zum Vorausfahrenden (Fachsprache: „Längsführung“). Zusätzlich gibt es eine automatische Spurmittenführung („Querführung“). Der Mensch musste die Funktion jederzeit überwachen, was wiederum etwa durch die Hands-off-detection am Lenkrad erkannt wurde.
Mit dem hochautomatisierten Fahren ist genau das nicht mehr erforderlich. Der Mensch darf sich legal abwenden, was die Anforderung an Hard- und Software massiv erhöht: „Es muss eine sofortige Rückfallebene vorhanden sein“, so Prof. Seeck von der BASt. Alle Systeme, so Seeck, müssten redundant vorhanden sein – ähnlich wie im Flugzeugbau. Und das kostet viel, viel Geld.
Im Mercedes EQS bis 60 km/h bestellbar
Es ist wenig verwunderlich, dass mit dem Mercedes EQS ein Elektroauto der Luxusklasse den Anfang macht. Genauer gesagt: Gemacht hat, denn bis 60 km/h ist Level 3 in Deutschland – und tatsächlich nur hier – seit 18. Juli 2021 in Kraft. Die eigentliche gesetzliche Grundlage wurde sogar schon 2017 gelegt. Es mag dem skeptischen Beobachter unwahrscheinlich vorkommen, aber Deutschland ist Vorreiter.
Mercedes musste den EQS (und auch die S-Klasse) hierzu beim Kraftfahrtbundesamt (KBA) zertifizieren lassen. Und das ist nochmals notwendig, wenn die Homologation für die Neufassung von Level 3 – also bis 130 km/h und inklusive Spurwechselfähigkeit – freigegeben ist.
Im EQS wiederum muss der Drivepilot mit Fahrassistenzpaket Plus geordert werden. Über die nicht sofort sichtbare Redundanzebene und die erhöhte Rechnerleistung hinaus hat dieser Mercedes zusätzliche Sensoren. In der Front ist zum Beispiel ein Lidar eingebaut. In der Heckscheibe sitzt eine Kamera, die erkennt, wenn ein Einsatzfahrzeug mit Blaulicht kommt. Dann wird automatisch eine Rettungsgasse gebildet.
Außerdem befinden sich im Radkasten Feuchtigkeitssensoren. Es ist noch nicht öffentlich, wie Mercedes die neue UNECE-Regelung in die Praxis umsetzen wird. Klar ist, dass man zu Beginn vorsichtig sein wird. Bei Gischt und großer Nässe wird das System zur Rückübernahme auffordern.
Rückübernahme nach zehn Sekunden
Die Rückübernahme ist ein wesentliches Element des hochautomatisierten Fahrens: Wenn das System erkennt, dass es überfordert ist, gibt es die Fahrarbeit an den Menschen zurück. Hierfür ist eine Frist von zehn Sekunden vorgesehen. Mercedes ermahnt zuerst optisch und akustisch und nach vier Sekunden durch Rütteln am Gurt. Jeder möge selbst am Steuer stoppen, ob ihm zehn Sekunden auf der Autobahn lang oder kurz vorkommen. Gibt es keine Reaktion, wird der risikominimale Zustand hergestellt: Das Auto verzögert gezielt, die Warnblinkanlage wird angestellt, und im Fall des Mercedes wird sogar von einem medizinischen Notfall ausgegangen und der Rettungsdienst gerufen.
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Während der zehn Sekunden langen Übergabephase und im Zweifel zusätzlich während des Nothalts muss das System weiterhin perfekt funktionieren. Hier liegt eine weitere Ursache dafür, dass Redundanz zwingend ist. Anders als bei Level 2, wo eine Verkehrszeichenerkennung häufig richtig und manchmal falsch funktioniert, muss bei Level 3 der Algorithmus und die Hardware fehlerfrei sein.
Zentimetergenaue Positionsbestimmung
Das Fahrzeug muss zusätzlich exakt wissen, wo es ist. Beim EQS ist eine Positionsantenne eingebaut, die im einstelligen Zentimeterbereich arbeitet. Die Software weiß also im Abgleich mit einer hochgenauen digitalen Karte, wo sich das Elektroauto befindet. Diese präzisen Karten werden permanent durch die Kameras von anderen Mercedes-Modellen abgeglichen und angepasst.
Zur Positionsbestimmung sind auch drei Satelliten nötig. In einem Tunnel aber gibt es keinen Empfang. Das ist eins der Szenarien, bei denen das System rechtzeitig an den Menschen übergeben wird. Ohnehin ist davon auszugehen, dass die Autohersteller zu Beginn vorsichtig und sukzessive die Funktionen des hochautomatisierten Fahrens ausbauen werden. Safety first. So berichten Branchenkreise, dass BMW beim i7 noch nicht beschlossen hat, die maximal erlaubte Geschwindigkeit von 130 km/h sofort auszunutzen.
Eine Schwierigkeit wird auch sein, dem Menschen den Unterschied zwischen dem automatisierten Fahren nach Level 3 auf der Autobahn und dem lediglich assistierten Fahren nach Level 2 abseits davon klarzumachen. Das findet wohlgemerkt im selben Auto statt. Hier könnte es zur „Mode Confusion“ kommen, also zum mangelnden Bewusstsein, dass die Verantwortung wieder komplett beim Fahrer ist.
Eine Chance für Tesla FSD
Mercedes Truck sagt auf Anfrage von ELECTRIVE.net, dass man in schweren Nutzfahrzeugen gleich auf Level 4 gehen möchte. Dann ist keine Rückübergabe mehr vorgesehen, das System funktioniert für einen bestimmten Anwendungsfall durchgehend. Das probiert Mercedes Truck auf Highways in den USA aus.
Die ab 2023 gültige UNECE-Regelung ist auch eine Chance für Tesla. Beim Model 3 beträgt der aktuelle Aufpreis für das „volle Potenzial für autonomes Fahren“ derzeit 7.500 Euro. Der Gesetzgeber erlaubt Tesla nun, das auch umzusetzen. Fachkreise bezweifeln allerdings, dass mit der derzeit verbauten Sensortechnik (in den USA „camera only“) das hochautomatisierte Fahren machbar ist. Die Kunden werden von Tesla in dieser Hinsicht vielleicht Verbindlichkeit einklagen.
Trotzdem gilt, dass durch das Sicherheits- und Komfortniveau durch das hochautomatisierte Fahren nach Level 3 eine neue Qualität erreicht. Zwar ist nicht mit einer schnellen Verbreitung in preisgünstige Segmente zu rechnen. In der Luxusklasse von Audi, BMW, Mercedes und Porsche sowie allen, die noch dazugehören könnten, wie etwa Lexus, wird es aber bald notwendig sein, ein solches System zumindest gegen Aufpreis anzubieten. Wer das nicht tut, ist kein Konkurrent.
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